Jutta Gsell, Salon Kopfkunst Bad Mergentheim | Credit: Kevin Bailey

12.04.2023

Jutta Gsell: Friseurvereinigungen müssen ihren Egoismus ablegen

Bei ihr gibt es Schwankungen zwischen gut und super gut. Sie schätzt die kommende Generation, sieht uns in der Pflicht, Ausbildung neu zu denken und hält mit Kritik nicht zurück.

Im Gespräch mit Katja Ottiger

Wie geht es dir und deinem Salon?
Jutta Gsell:
Ich schwanke zwischen gut und super gut. Ich bin überzeugt davon, dass wir alle Hürden schaffen werden. Unsere Kundinnen kommen nach wie vor zu uns, auch wenn sie mehr darauf schauen, wofür sie ihr Geld ausgeben. Wir setzen stärker denn ja auf Individualismus. Wir reden nicht über das Wetter, sondern ausschließlich über das, was die Kundin möchte und was sie bei uns mitbekommt. Wir erteilen Rat, reagieren auf die Ist-Situation und gehen gemeinsam neue Wege. Das Wertschätzen des Individuellen ist im Moment sehr, sehr wichtig.

„Ich biete Mitarbeiter*innen die Plattform, sich selbst zu verwirklichen.“

Wie gehst du mit neuen Arbeitszeitmodellen um, beispielsweise einer verkürztenArbeitswoche?
JG: Meine Mitarbeiterinnen können sich ihre Arbeitszeit frei einteilen. Allerdings mache ich das an Zahlen fest. Wir sind da sehr transparent: Sie kennen immer ihre Zahlen und auch meine. Sie wissen, was sie zu leisten haben und arbeiten eigenverantwortlich. Ich biete ihnen die Plattform, um sich persönlich verwirklichen zu können.

Selbstverwirklichung schließt auch ein, dass Menschen neue Wege gehen ...
JG:
Ich finde es gut, wenn Menschen neuen Wege gehen und bin generell stolz, wenn sich ehemalige Mitarbeiterinnen selbstständig machen. Das hilft mir dabei, mir immer wieder selbst auf die Füße zu treten, immer besser zu werden.

Du bildest seit vielen Jahren aus, unterrichtest in Berufsschulen, machst Prüfungsabnahmen. Wie siehst du die Ausbildung allgemein?
JG:
Ich habe einen sehr engen Kontakt zuunserer Berufsschule. Sie hat das Privileg, dass ich regelmäßig für ein oder zwei Tage übernehme.Die Ausbildung ist generell reformbedürftig, die Anforderungen sind noch immer althergebracht und ohne Aussagekraft.

„Instagram wäre für mich ein Unterrichtsfach.“

Wir müssen uns mehr fragen: Was brauchen junge Menschen? Denn was sehen wir auf Instagram, auf TikTok?: ständige Veränderung! Aber wir lehren in den Berufsschulen alten Kram, der erst mal nicht wichtig ist.
Für mich wäre das Einbeziehen sozialer Medien ein Unterrichtsfach! Unsere Zukunft wird sehr davon abhängen. Das wird in Zukunft Einfluss in den Bewerbungsprozess haben. Denn so zeigt man, was man schon gemacht hat sowie persönliches Engagement. Instagram gehört in eine Berufsschule, denn damit repräsentiert sie sich nach außen.

Wie würdest du Ausbildung denn neu angehen?
JG:
Junge Menschen müssen lernen, kreative Dinge zu erschaffen. Erst sollte der Kreativprozess starten, im nächsten Schritt kommen die Techniken, die für Umsetzung gebraucht werden, und die Theorie, wie das Verstehen chemischer Prozesse, hinzu.

Gibt es für dich Generationenkonflikte?
JG:
Nicht wirklich.Jugendliche wollen zeigen, dass sie etwas können. Wir sehen nur, was sie NICHT können, wie schwierig sie alle sind, wie anspruchsvoll … Ich finde, die Generation war noch nie so folgsam wie jetzt. Kinder hören heute mehr auf ihre Eltern als je zuvor: „Werde keine Friseurin, denn da verdienst du nix“. Das hätte mich bei meiner Mama nicht die Bohne interessiert. Wir haben den falschen Ansatz, wir sehen es immer nur von unserer Warte aus. Wir müssen jungen Menschen das Anderssein zugestehen. Und natürlich muss ich denen heute mehr bieten, aber ich habe ja auch noch die Fenster im Privathaus meines Lehrmeisters geputzt.

„Unsere Branche ist mit Egoisten bestückt, die nur sich selbst sehen.“

Was sollten die Verbände dafür tun?
JG:
Friseurvereinigungen müssen ihren Egoismus ablegen und anfangen, an das Gemeinsame zu denken. Das Bestreben muss sein, dass wir gut ausbilden. Es tut mir so leid für diese Branche, aber sie ist bestückt mit Egoisten, die nur sich selbst sehen.

„Jammern macht uns unattraktiv für junge Menschen.“

Bist du in der Innung aktiv?
JG:
Ja, aber da bin ich maßlos enttäuscht. Die Innung ist zu klein und zu veraltet. Niemand steht auf und handelt. Nehmen wir die Pandemie: Der Zentralverband ist durchs Fernsehen gerannt und hat die Frisuren der Fußballer thematisiert!? Jammermodus! Das macht uns unattraktiv für junge Menschen.

Was ist dein Zugang?
JG:
Ich gehe jedes Jahr an eine Gemeinschaftsschule und erzähle dort in jeweils zwei Gruppen den Schülerinnen und Schülern vom Friseurberuf. Ich lasse sie Locken mit Glätteisen machen und sie zeigen mir, was sie denken und wie sie ihre Ideen umsetzen würden. Da können manche gar „nichts“, andere bringen Großartiges mit. Und wenn auch die, die vorher „nichts“ konnten, am Ende dann genauso happy sind, weil sie anderes abgeholt wurden, dann ist das toll. Ich frage mich, warum das eine Berufsschule nicht schafft.  

Hast du durch diese Aktion „Ergebnisse“?
JG:
Ja, seit einigen Jahren bewirbt sich immer wieder jemand aus diesem Kreis in meinem Salon für eine Friseurausbildung.

 „Dabei müssten wir feiern! Das Geschäft mit der Schönheit boomt!“

Verpassen Friseur*innen Chancen?
JG:
Ja! Das System Schönheit boomt wie selten zuvor. Wir haben die beste Situation, aber fokussieren nicht darauf, sondern auf das, was ungut ist. Warum sagen wir nicht stolz: „Hey Leute, wir leisten schönes und müssen Geld dafür nehmen.“ Friseure versäumen es, Preise endlich anzuheben. Es ist machbar!

Du bist neben allem auch Wella Top-Akteurin, lehrst Handwerk und sprichst über neue Dienstleistungen. Welche ist dein Favorit?
JG:
DefinitivShinefinity. Ich mag diesen Service - und dasmache nicht für Wella, sondern für die Kundin und mich. Ich habe den Naturton, der nicht angegriffen wird, ich habe einen unglaublichen Glanz und eine tolle Haarstruktur. Damit nehme ich Kundinnen mit auf meine Reise, was wiederum gut auf Insta funktioniert: Wie wasche ich meine Haare, wie pflege ich sie richtig? Das wünschen sich Endverbraucher, wir müssen es nur bedienen – und das gehört für mich auch in die Schule.
 

Über Jutta Gsell:

  • "Kopfkunst" in Bad Mergentheim
  • 11 Mitarbeiter*innen, 2 Lehrlinge