Credit: Andrea Ganshorn

06.05.2022

Noah Wild: Wer hat denn etwas davon, dass alles bleibt, wie es ist? Der Friseur aus meiner Sicht nicht.

Ein sehr persönliches und meinungsstarkes Interview über die Nöte der Branche, neue Geschäftsmodelle, verpasste Chancen, ein nichtfunktionierendes Ausbildungssystem und die Vogelstraußtaktik mancher Verbände…

Das Gespräch führte Raphaela Kirschnick

Du führst gemeinsam mit deiner Schwester Mira die Wild Beauty GmbH in zweiter Generation. Welche neuen Wege hast Du eingeschlagen?
Noah Wild:
Wichtig ist ja sich nicht über das zu definieren, was man anders macht, sondern über das, was man richtig macht. Mein Vater hat sehr vieles richtig gemacht und würde heute sicher vieles auch anders machen.

Meine Schwester und ich sind sicher viel digitalisierter als mein Vater. Er hat in seinem Leben nie eine E-Mail geschrieben, aber das ist eine andere Generation. Zeiten ändern sich und man muss sich immer wieder in Frage stellen und auch neu finden, muss aber dabei Grundlinien treu bleiben. Und ich finde, das machen wir gut.

„Wenn es dem Friseur nichts nützt, dann machen wir es nicht.“

Was ist eure Grundlinie?
NW:
Wir müssen uns bei allem die Frage stellen: Was nützt es dem Friseur? Wenn wir darauf keine Antwort finden, dann machen wir es erst gar nicht. Von Anfang an ging es uns um Friseurexklusivität und das ist unser Nordstern, an dem wir uns orientieren.

„Wie hätte mein Vater das emotional und mental verkraftet?“

Dein Vater (Reinhold Wild) ist 2017 verstorben. Welche Fragen würdest Du heute Deinem Vater stellen?
NW:
Als mein Vater das Unternehmen gegründet hatte, ging es uns auch nicht dolle. Ich kann mich erinnern, als unsere Mutter vorm EC-Automaten stand und kein Geld bekam, damals war ich noch ein kleiner Bub. 
Im Lockdown haben wir als Firma nur Geld ausgegeben, nichts eingenommen. Das war für mich emotional sehr schwierig. Du hast deine Verantwortung für über 100 Leute und siehst das Konto jeden Tag leerer werden. Mich hat das fertig gemacht. Mich würde sehr interessieren, wie mein Vater das verkraftet hätte, emotional, aber auch mental und wie er damit umgegangen wäre.

Was glaubst du hätte er gemacht?
NW:
Ich glaube, er hätte die Klagen noch ein Ticken früher eingereicht als ich. Er war immer jemand, der auch mal auf Rabau aus war. Mit Bürokraten Apparatschiks konnte er gar nicht, er hätte sich gewehrt.

Eine Stärke, die du von deinem Vater hast?
NW:
Was ich bei meinem Vater immer top fand, er hat sich nie zu wichtig genommen. Er war immer sehr meinungsfreudig, war sich aber auch nicht zu schade, seine Meinung wieder zu ändern. Dadurch war er entscheidungsfreudig, konnte in jeder Lage auch korrigieren. Gesichtsverlust kannte er nicht. Und ich versuche das ebenso durchzuziehen.

Yours Truly ist das erste große Eigenprodukt von Wild Beauty. Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen?
NW:
Seit den 60er Jahren wurden hunderte Millionen in Verkaufstrainings investiert, der Verkaufsanteil der Branche ist aber immer gleichgeblieben. Es wurde immer an den Symptomen rumgedoktert, aber nie an die Ursachen herangegangen. Wir brauchen neue Geschäftsmodelle.

„Wir müssen raus aus dieser Vergleichbarkeitsfalle und etwas Neues schaffen,…“

Ein neues Geschäftsmodell wie Yours Truly?
NW:  
Wir wollen nicht noch mehr Produkte ins Regal stellen. Wir können doch nicht sagen ‚Yeah‘, wir machen jetzt ein Shampoo, wo Noah Wild draufsteht.
Es gibt keine Knappheit an Shampoos im Markt. Wir müssen raus aus dieser Vergleichbarkeitsfalle und etwas Neues schaffen, was zu dem passt, was der Friseur schon immer macht: Er personalisiert Schnitte und Haarfarbe. Mit Yours Truly personalisiert er auch die Pflege. 

„Personalisierung ist ein Megatrend, das sollte ein fixes Segment in der Branche werden.“

Mit welchen Herausforderungen seid ihr konfrontiert?
NW:
Wir müssen etwas kreieren, was der Kunde woanders nicht bekommen kann. Personalisierung ist ein Megatrend, das sollte ein fixes Segment in der Branche werden. Darin sehe ich eine Megachance.
In Foren höre ich immer wieder so doofe Kommentare wie ‚Haare wachsen immer‘! Darauf ruhen sich dann alle aus, das ist gefährlich.
Nimm die Personenbeförderung: Ein Taxifahrer hätte gerne gewusst, dass Uber als Geschäftsmodell kommt.

Wie ist das Feedback der Friseure?
NW:
Das ist ein dickes Brett, das man da bohrt. Wir verkaufen etwas, ohne es in die Hand zu geben. Einige Salons sind damit super erfolgreich, andere verstehen es nicht. Wir schaffen ein Erlebnis vor Ort, um aufgrund dessen, die Produkte nach Hause geschickt zu bekommen. Das Potential ist enorm.

Eine erste Bilanz?
NW:
Wir haben im Herbst 2021 mit einem Softlaunch begonnen und haben seitdem 2.000 Produktsets produziert. Es gibt bereits 15.000 ausgefüllte Fragebögen. Damit bin ich sehr zufrieden. Bisher gibt es knapp 70 Salonpartner. Jetzt beginnen wir so richtig mit der Vermarktung.

Die FAZ hat dich als ‚Robin Hood der Friseure‘ bezeichnet, deine Reaktion?
NW:
Das hätte meinen Vater diebisch gefreut. Aber ja, fand ich natürlich auch sehr cool.

Hintergrund waren eure rechtlichen Initiativen und die Kampagne #friseureinnot. Wie ist es dazu gekommen?
NW:
Verzweiflung im Lockdown und viele Überlegungen am Frühstückstisch, wie ‚Wir leben in einem Rechtsstaat, das heißt, wir können Rechtsmittel einlegen‘. Mit diesem Gedanken habe ich unseren Anwalt angerufen. Dann ist die Medienmaschine losgelaufen und das Echo war phänomenal.
Wir haben knapp 40 Mio. Deutsche erreicht. Daran kam irgendwann niemand mehr vorbei, wann hat denn die Branche zum letzten Mal eine solche Kampagne erlebt?

Wie habt ihr die Friseurunternehmen gefunden, mit denen ihr die Klagen eingereicht habt?
NW:
17 Klagen in allen Bundesländern, in Hessen zwei.  Die meisten kenne ich persönlich. Es waren alle froh, dass sie das Gefühl hatten sich wehren zu können. Das ist doch geil, wenn ein Friseur vorm Oberlandesgericht steht. Wann gab es denn so etwas?

„Ich sehe das als eine Investition vor allem in die Branche.“

Wieviel habt ihr in die Aktion bisher investiert?
NW:
Wir haben für Anwälte und PR-Beratung in Summe 150.000,- € ausgegeben. Eine reine Investition, das bekommt man auch nicht mehr zurück. Ich sehe das als eine Investition vor allem in die Branche. 

Wurdet ihr von Innungen und Verbänden unterstützt?
NW:
Einige Landesinnungen Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein haben es intensiv unterstützt, Guido Wirtz, LM Rheinland-Pfalz, hat auch selbst geklagt.
Aber viele haben es nicht verstanden und das ist bitter. Erschreckend fand ich Kommentare wie „Ich verklage doch nicht den eigenen Staat“.

Bleiben Friseure auf den Kosten irgendwann sitzen?
NW:
Auf keinem einzigen Euro!  Wir haben und werden alle Rechnungen zahlen.

Wie viele Prozesse sind noch offen?
NW:
Noch ein Großer mit Sandra Stiemert vor dem Bundesverfassungsgericht. Da geht es um die Ungleichbehandlung beim Unternehmerlohn und die Entschädigungszahlungen. Die Ungleichbehandlung des Staates kann nicht rechtens sein, ist sie aber, weil die Gesetze sind, wie sie sind. Um das zu ändern, musst du verlieren.

Erkläre „Du musst verlieren“!
NW:
Erst wenn man vorm Oberlandesgericht verliert, kann man das vors Bundesverfassungsgericht bringen und dem BVG dann sagen ‚Leute, das ist zwar so Gesetz, aber das kann nicht sein, gebt doch hier der Politik einen Auftrag, das Gesetz zu ändern.‘ Genau dabei sind wir gerade, ich denke, dass dieses Verfahren im Herbst gehört wird.

Was versprichst Du dir davon?
NW:
Wenn sich das Bundesverfassungsgericht positiv zu uns äußert, dann muss die Regierung eine neue Gesetzeslage schaffen. Das wäre ein Arbeitsauftrag an die Politik.

Bist du selbst politisch aktiv?
NW:
Ich war 10 Jahre Gemeindevertreter für die FDP, bis es sich zeitlich nicht mehr ausging. Ich bin nicht mehr politisch aktiv, aber Mitglied der FDP.

In Coronazeiten habt ihr eure Kund*innen aktiv mit Informationen unterstützt, jetzt gibt es deinen eigenen Blog. Wie kam es dazu?
NW:
In unseren Facebookgruppen haben wir viel veröffentlicht, das wurde irgendwann unübersichtlich. So habe ich meinen Blog (https://noahwild.de) aufgesetzt, um Informationen besser strukturieren und für alle frei zugänglich machen zu können.

Möchtest du das beibehalten?
NW:
Ja, es ist mein Blog, meine Meinung und es macht mir sehr viel Spaß. Es gibt neuralgische Themen, mit denen setze ich mich gerne auseinander, wie eben Corona.

Ist es nicht schwierig, wenn die Industrie als Informant fungiert?
NW:
Meine Aufgabe ist das doch eigentlich gar nicht, das wäre die Aufgabe des Deutschen Zentralverbandes (ZV) gewesen. Die haben die Ressourcen und es ist deren Aufgabe. Der ZV hätte hier einen Mehrwert für die Branche schaffen können und diese Chance wurde ganz bewusst nicht genutzt.

Wie lief der Austausch im IKW (Industrieverband Körperpflege- und Waschmittel)?
NW:
Wir hatten eine Corona Taskforce mit Joachim Castor (Wella), Kerstin Lehmann (L’Oréal), Birgit Huber (IKW) und haben super zusammengearbeitet: vertrauensvoll, auf Augenhöhe, fair. Auf Lieferantenseite haben wir uns extrem viel Mühe gegeben.

„Das duale Ausbildungssystem ist ein totgerittenes Pferd.“

Die Friseurbranche kämpft mit großen Herausforderungen, allem voran Nachwuchs- und Personalmangel. Was wird gebraucht?
NW:
Das duale Ausbildungssystem ist ein totgerittenes Pferd. Zahlen lügen nicht, da müssen wir die Welt mal nüchtern sehen, wie sie ist. Die Vogelstraußtaktik des Verbandes führt dazu, dass wir irgendwann keine Auszubildenden mehr haben. Da tobt ein Kampf gegen Strukturen und Pfründe, denn es gibt ja Leute, die mit der aktuellen Situation Geld verdienen, das ist eine Art von Besitzstandswahrung.

„Wer hat denn etwas davon, das alles bleibt wie es ist?“

Wer verdient damit Geld?
NW:
Genau diese Frage muss man stellen. Ganz bestimmt der Zentralverband mit Lehrbüchern, Rahmenplänen, allen möglichen Geschichten. Wer hat denn etwas davon, das alles bleibt wie es ist? Der Friseur ist das aus meiner Sicht nicht.

Welche Lösungsansätze siehst du?
NW:
Wir müssen als Branche kampagnenfähig werden, dazu brauchen wir ein zentrales Organ, als Ansprechpartner für die Politik. Es muss der Anspruch sein, dass alle Innungen und Verbände Teil des ZV sind, auch Verbände wie Intercoiffure, der Verband der Filialisten, etc.. Die Industrie muss fördernder Partner sein und es sollten alle Friseure Mitglied sein.

„Aber retten muss sich die Branche selber…“

Ginge das in der aktuellen Struktur?
NW:
Mitglieder treten massiv aus, es gibt immer weniger Innungsverbände als Teil des ZV. Wir befinden uns in einer Abwärtsspirale, die gestoppt werden muss. Probleme beginnen bei Personen, darum muss man sich kümmern und das ist alternativlos.  Aber retten muss sich die Branche selber, wir können als Industrie nur Hilfestellung geben und das tun wir auch.

Worauf liegt euer Unternehmensfokus für die kommenden Jahre?
NW: 
Wir dürfen keine Firma der Beliebigkeit werden und müssen vielmehr klar Position beziehen. Leute sollen wissen, woran sie sind: Ein Familienbetrieb, wir investieren und stehen für Verbindlichkeit.

Noah vielen Dank für dieses sehr offene, persönliche Gespräch.