Credit: Thomas Rafalzyk

12.11.2021

André Märtens: Haarersatz ist ein Stück Leben…

Mit Zweithaar-Patientinnen umgehen, das ist hochsensibel und nicht für jeden etwas. Die Patientensicht und wirkliche Empathie sind dabei wesentlich. Wie man sich und MitarbeiterInnen vorbereiten kann…

André Märtens ist L’Oréal Professionnel Paris Botschafter und Partner der DKMS LIFE Initiative „look good feel better” in Deutschland.

Im Gespräch mit Raphaela Kirschnick
 

Herr Märtens, wie ist es dazu gekommen, dass Sie sich so stark für das Thema „Haarersatz“ einsetzen?
André Märtens:
Letztendlich war das leider eine persönliche Erfahrung. Ausschlaggebend war die Krebserkrankung meiner Frau, die uns an dieses Thema herangeführt hat. Dass L’Oréal zeitgleich die DKMS Initiative unterstützt hat, war ein Zufall. Ich hatte mich schon vorher mit Perücken und Zweithaar beschäftigt, aber eher für das Theater oder Film und nicht im medizinischen Bereich.

Wie gelang der Spagat vom Theater zum Medizinischen?
AM: Ursprünglich wollten meine Frau und ich zu jemandem gehen, der sich mit dem Thema auskennt. Das war aber mehr oder weniger ein Desaster, sehr empathielos. Die Person, die meine Frau beraten hat, führte ein Verkaufsgespräch wie für ein neues Auto und nicht eine Beratung für einen Haarersatz, der sie fürs nächste Jahr begleiten soll.  Meine Frau bekam dann eine Perücke, die vorne und hinten nicht passte und auch farblich nicht ihrem Wunsch entsprach. Man ist gar nicht auf sie als Kundin eingegangen, wie man es eigentlich hätte erwarten können.

„Haarersatz ist ein Stück Leben, das man dann für diesen Zeitraum zurückbekommt“

Welche Erwartung ist das?
AM: Haarersatz ist ein Stück Leben, das man dann für diesen Zeitraum zurückbekommt. Es ist eine ganz schlimme Sache, wenn Frauen sich mit ihrer Perücke nicht wohlfühlen und nicht gerne in den Spiegel schauen. Meine Frau kam damals nach Hause und hat bitterlich geweint. Das war für mich ein ausschlaggebender Grund und ich habe mich gefragt, warum wir das nicht selbst machen. Es gibt sehr viele Frauen, die Hilfe brauchen.  

„Für mich war das eine große emotionale Hemmschwelle.“

Was haben Sie persönlich unternommen, um Spezialist in diesem Bereich zu werden?
AM:
Ich habe mich mein Leben lang mit Haaren und auch Zweithaar beschäftigt, für mich war das keine große Herausforderung. Ich bin in der vierten Generation Friseur, meine Mutter war eine großartige Friseurin hier in Berlin und hatte einen sehr großen Fundus aus Perücken und Haarersatzteilen, mit denen ich mich relativ früh auseinandergesetzt habe. Für große Theater- und Kinoproduktionen hatten wir schon mit Perücken und Haarersatz gearbeitet, insofern gab es für mich da keine handwerklichen Hürden. Natürlich habe ich mich gefragt, warum ich das nicht gleich selbst für meine Frau gemacht habe. Für mich gab es damals eine große emotionale Hemmschwelle, man ist da ja emotional ganz anders im Thema drin, wenn die eigene Frau betroffen ist.

Sie unterstützen gemeinsam mit L‘Oréal die soziale Organisation DKMS LIFE. Haben Sie denn das Gefühl, dass die Branche bereits genügend für dieses Thema sensibilisiert ist?
AM:
Naja, wissen Sie, man kann den Friseuren da gar keinen Vorwurf machen. Letztendlich ist man erst dann sensibilisiert, wenn man mit dieser Problematik konfrontiert wurde. Man braucht für sich selbst eine gesunde Einschätzung, wie weit man mit diesem Thema umgehen kann. Wenn man das nicht kann, muss man das abgeben.

Worauf muss man achten?
AM:
Das ist ein so hochsensibles Thema, da kann ganz viel falsch laufen. Wir sind heute in der Lage, den Leuten zu 90 % ihr Aussehen zurückzugeben. Wir haben sehr vielen Menschen, die in Deutschland sehr prominent sind und auf öffentlichen Bühnen stehen, diesen Menschen haben wir wirklich geholfen und ihnen eine Hilfestellung gegeben, sodass sie mit ihrem Zweithaar ihren Beruf genauso wie vorher ausüben können.  

Wie leistbar ist das?
AM:
Natürlich ist das auch abhängig vom Geldbeutel. Es gibt günstigeren Haarersatz, der das passende Produkt sein kann, wenn das von der Haarqualität und Farbe passt. Aber meistens ist es so, dass wir in unseren Breitengraden eine feinere Haarqualität haben, eine Kunsthaarperücke kann da nicht immer mithalten. Man muss auf ein Echthaarprodukt ausweichen, wenn man das wirklich perfektionieren will und das geht dann ganz schnell in mehrere Tausende Euro über, die man nur für das Grundprodukt ausgeben muss.

„… so hört man auch gleich die Patientensicht.“

Es erweitern immer mehr Salons mit einem zweiten Standbein bei Perücken, Beratung von Chemo-Patienten, etc. Welche Weiterbildungen sollten diese durchlaufen?
AM:
Es gibt natürlich zum einen die Möglichkeit, sich bei uns oder der DKMS LIFE zu melden, dort gibt es in kostenlosen Seminaren  bei L‘Oréal in Düsseldorf die Möglichkeit Partnersalon des Haarprogramms zu werden. Vor Ort sind nicht nur Friseure, die sich dafür qualifizieren wollen, Krebspatientinnen vor, während und nach dem Haarverlust mit ihrer Friseur-Expertise zu beraten und zu begleiten. Es gibt auch immer einen Beitrag einer Patientin und das ist wichtig, denn so hört man auch gleich die Patientensicht und kann sich dem Thema so viel besser nähern.

Was ist für den Patienten das Entscheidende?
AM:
Das ist ein sehr komplexes Thema - von der Erstberatung, wo sie die Kunden aufklären müssen, was es für Haarersatz gibt, bis zum letzten Schnitt. Idealerweise darf sich das Äußere der Patientinnen gar nicht davon unterscheiden, wie sie sonst auch aufgetreten sind. Da gibt es ganz viele Unterschiede und die muss man einer Kundin erklären, und natürlich auch wie Perücken verarbeitet sind und so weiter. Dazu kommt die Komponente, dass ein Arzt darüber gar nicht aufklärt, der ist schon damit beschäftigt, der Patientin die Diagnose beizubringen. Alles darüber hinaus muss dann tatsächlich der Friseur leisten. Das sind wichtige Fragen wie: In welchem Zeitraum fallen Haare aus? Und wie kann man mit den nicht vorhanden Haaren auf dem Kopf umgehen? Und vieles mehr.

Kann man das Thema als Friseur auch nebenbei angehen oder sollte man, wenn man sich dem Thema verschreibt, einen Mitarbeiter oder sich selbst voll dafür abstellen?
AM: Naja, voll dafür abstellen, das wird am Anfang wirtschaftlich nicht möglich sein. Bei uns sind es nach 10 Jahren zwei Mitarbeiterinnen, die sich um dieses Thema kümmern und natürlich mache ich selbst das auch immer noch, ausschließlich kann man sich dem nicht widmen, dafür wird es zu wenig sein, aber man muss Ernsthaftigkeit und das Gefühl vermitteln, dass man auch wirklich alles dafür tut, dass den Menschen geholfen wird. Das ist die Grundvoraussetzung. Wir sind quasi 24/7 für die Patientinnen da, wenn bei uns jemand Probleme hat und am Sonntag die Haare anfangen auszufallen und die Patientin es nicht mehr aushält, dann stellen wir uns auch sonntags in den Salon und helfen.   

„Die Grundvoraussetzung, um eine Patientin zu bedienen, ist wirkliche Empathie.“

Welche Kriterien müssen Mitarbeiter erfüllen,  damit sie empathisch diesen Service anbieten können?
AM:
Wir bedienen alles, was das Handwerk hergibt, wir haben Extensions, wir haben Balayage-Künstler und andere Stylisten, die z.B. Hochsteckfrisuren machen. Jeder hat so sein Steckenpferd.
Aber die Grundvoraussetzung, um  eine PatentIn zu bedienen, ist wirkliche Empathie. Man muss sich intensiv mit dem Thema auseinandersetzen. Man muss wissen, worum es geht, was es für Materialien gibt und man muss die Produkte, d.h. die Perücken, sehr gut kennen. Letztendlich geht es darum, das beste Basisprodukt zu finden, damit die Kundin hinterher so aussieht, wie sie es sich wünscht.

Gibt es viele Weiterbildungsmaßahmen für MitarbeiterInnen?
AM: Es gibt tatsächlich von einigen Herstellern Seminarangebote. Es kommt aber immer darauf an, was man machen will. Der Zweithaarbereich ist riesengroß, wenn man sich damit nie beschäftigt hat, hat man ja gar keine Ahnung, was da noch alles dahintersteckt. Es ist ja nicht nur so, dass man Menschen versorgen kann, die durch eine Chemotherapie ihre Haare verlieren, sondern wir haben natürlich auch viele autoimmun erkrankte Personen, wir haben Männer, denen die Haare einfach fehlen, aber heutzutage hat man zum Glück viele Möglichkeiten, um den Menschen zu helfen.

Die Basisarbeiten wie Perücken einschneiden, muss man beherrschen, denn es ist ja auch kostspielig. Man muss gewissenhaft mit dem Material umgehen, sonst hat man relativ schnell einen großen Kollateralschaden, wenn z.B. mit einer Perücke gearbeitet wird, die 3.000 Euro kostet.

„… Kollateralschaden … denn man weiß, die Haare wachsen nicht nach.“

Ist man eigentlich versichert, wenn man eine Perücke verschneidet?
AM: Das passiert nicht. Die Leute, die diesen Perückenservice bei uns machen, haben viel Ahnung, und sind fit, indem was sie tun. Wir machen das jetzt über 10 Jahre. Es gibt mehrere Sitzungen mit der Kundin. Bei diesen Terminen wird dann z.B. gefragt, ob der Pony noch kürzer sein soll, oder ob die Patientin noch irgendetwas stört. Das ist ein Prozess, an den man sich langsam herantastet, denn man weiß, diese Haare wachsen nicht nach. Die Kundin erfährt auch, wie sie ihre Haare wäscht, pflegt und stylt. Das muss sie in jedem Fall  wissen.

Arbeiten sie hauptsächlich mit Echthaar oder ist es ein Mix aus Verschiedenem?
AM:
Wir arbeiten grundsätzlich mit allem. Es kommt darauf an, was die Trägerin braucht oder wünscht. Einer Kundin, die einmal in der Woche herausgeht zum Einkaufen, würde ich keine Echthaarperücke empfehlen. Einer Person, die autoimmun erkrankt ist und nie wieder Haare haben wird, da ist Echthaar selbstverständlich für mich. Eine Kunsthaarperücke in Langhaar geht für mich da gar nicht, denn nach zwei Monaten täglichen Gebrauchs kann man in der Regel schon die erste Abnutzung sehen. Es gibt kein Kunsthaar, das so robust ist, dass man es jeden Tag tragen kann.    

„Das Thema Perücke ist für die meisten erst mal ein Horror.“

Haarersatz, Zweithaar, Kopfhaut, Perücken, Extensions, Haarverdichtung – das sind viele Begrifflichkeiten. Gibt es einen Überbegriff? Wie sehen Sie die Differenzierung?
AM:
Wir haben das mit Haarersatz überschrieben, es geht um Haarverlängerung, Haarverdichtung und Perücken bei einer Chemotherapie oder Haarintegration.  Das Thema Perücke ist für die meisten erst mal ein Horror. Wenn eine Kundin erfährt, sie bekommt eine Chemotherapie, da ist ja die Krankheit schon fast zweitrangig. Für viele ist das Schlimmste, dass die Haare von heute auf morgen nicht mehr da sind. Schauen Sie mal in den Spiegel und überlegen Sie, wenn sie von heute auf morgen all ihre Haare verlieren. Wenn Sie da nicht jemand haben, der Ihnen so hilft, dass sie hinterher wieder in den Spiegel schauen möchten, dann ist das für die Menschen der absolute Alptraum, und das ist, was man verstehen muss, wenn man dieses Thema angeht.

„…das kannst du keinem Mitarbeiter überstülpen und sagen, mach das jetzt."

Gibt es etwas, dass der Markt braucht?
AM: Ich weiß nicht, wie viel die Branche da tatsächlich  tun kann, ich glaube, dass man sich dafür berufen fühlen muss. Wenn Sie Menschen ein Stück Leben mit Haaren zurückgeben, dann macht das unheimlich glücklich, das ist eine ganz erfüllende Tätigkeit. Sie können die schönsten Frisuren machen und der Kunde freut sich natürlich. Aber es ist nochmal etwas ganz anderes, wenn sie eine Kundin haben, bei der die eigene Lebensfreude davon abhängt. Die Auswirkungen einer Chemotherapie sind ja ganz unterschiedlich und es kommt auch dazu, dass nicht nur das Kopfhaar ausfällt, sondern ihnen fehlen plötzlich auch die Augenbrauen, die Wimpern. Das ist so komplex, dieses Thema, das muss auch jemand sein, der das wirklich will und der sich berufen dazu fühlt. Man kann diese Aufgabe nicht einfach einem Mitarbeiter überstülpen und sagen, mach das jetzt.

Wie häufig sind sie denn noch für DKMS LIFE im Einsatz?
AM: Wenn ich gebraucht werde, stehe ich gern zur Verfügung. Dort haben wir ja auch immer einen sehr spannenden Austausch. Zurzeit befassen wir uns auch intensiv mit dem Haarersatz bei Männern.

„Grundsätzlich hat man als Friseur eine ganz große Verantwortung für Haare.“

Sie sprechen immer von „Haaren baden“. Wie kam es dazu?
AM:
Naja, das ist tatsächlich kein Begriff, der von mir kommt. Das hat Kérastase geprägt. Grundsätzlich hat man als Friseur eine ganz große Verantwortung für Haare. Haare sind ein unglaublich tolles Material, das wie ein Schmuckstück behandelt werden muss. Haare baden drückt die Wertschätzung der Materie Haar gegenüber aus.

Sie sind sehr vielseitig: Friseurunternehmer, Fashion-Stylist, Haarersatz-Experte, Buchautor. Gibt es etwas, was Sie noch gern machen würden?
AM:
 Diese Frage stellt man sich natürlich immer irgendwie. Ich finde gerade richtig toll, wieder zurück zu den Wurzeln zu kommen, im Salon zu stehen. Ich habe gerade eine Anfrage für eine Haute Couture Show in Paris bekommen,  das ist eine schöne Herausforderung und auch Wertschätzung meiner Arbeit, da freue ich mich schon sehr drauf. Ich habe ja schon fast alles gemacht, was man im Bereich Haare machen kann, ich habe viel, fürs Theater, Musical, Kino, große Werbekampagnen, große Fotoshootings gearbeitet. Natürlich hat alles seinen Reiz, den ganz normalen Friseuralltag genieße ich trotzdem  auch sehr. Ein Kollege meinte mal zu mir, wenn du nichts mehr zu sagen hast, dann darfst du dich auch nicht mehr auf die Bühne stellen und das habe ich befolgt. Deswegen versuche ich immer wieder an mir zu arbeiten und Dinge zu finden, die mir Spaß machen und mich inspirieren und die ich auch an meine Mitarbeiter weitergeben kann. Ich arbeite mit vielen tollen Menschen, jedoch wirklich sehr erfüllend sind die Arbeiten mit dem Haarersatz!

Lieber André Märtens, vielen Dank für das äußerst interessante Gespräch zu einem sehr wichtigen und bedeutungsstarken Thema

 

Gemeinsam mit der DKMS LIFE und der GFH hat L’Oréal Professionelle Produkte das ►Haarprogramm 2011 ins Leben gerufen. Inzwischen sind über 100 Salons in ganz Deutschland ausgezeichnet als Partnersalon des Programms und unterstützen damit Krebspatientinnen vor, während und nach dem Haarverlust mit ihrer Friseur-Expertise und Zweithaar-Beratung. Jeder Salon, der eine Zweithaar-Expertise hat und sich engagieren möchte, ist herzlich willkommen, Teil dieses besonderen Projektes zu werden. Im Rahmen der Krebstherapie verlieren nahezu alle Frauen ihre Haare. Für die meisten eine besonders einschneidende Veränderung, vielen Frauen fällt schon allein der Blick in den Spiegel extrem schwer. Patientinnen erhalten bei einem speziell geschulten Partnerfriseur eine individuelle Beratung zum Umgang mit Haarausfall, Informationen zur Anschaffung und Abrechnung mit der Krankenkasse beim Kauf der Zweitfrisur bis hin zum perfekten Anpassen der Perücke und der Anwendung entsprechender Pflegeprodukte. Das Programm umfasst die individuelle Anpassung einer Perücke sowie das Aufzeigen von Alternativen (z.B. Tücher). Besondere Rücksicht wird auf die spezielle Situation der Frauen genommen, denn wohlfühlen steht an oberster Stelle!

Sie haben Interesse am Haarprogramm und möchten Partnersalon werden? Machen Sie mit und differenzieren Sie sich und Ihren Salon mit Zweithaar-Expertise! Wenden Sie sich für weitere Informationen an andrea.lukacs@loreal.com